BerufsrollenreflexionBedeutung für eine weltoffene Hochschule

Mehrere Polizistinnen und Polizisten sitzen in einem Raum, nur der Rücken ist
Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Berufsrollenreflexion im Polizeistudium

Eine Möglichkeit, dem Anspruch einer weltoffenen Hochschule gerecht(er) zu werden?

Einleitung

Das Modul „Berufsrollenreflexion“ (im folgenden Text mit „BRR“ abgekürzt) wurde 2012 im Rahmen des Polizeistudiums in NRW eingeführt. Es soll die angehenden „Polizistinnen und Polizisten dabei unterstützen, besonders herausfordernde, eventuell belastende, überraschende oder als unüblich empfundene Einsätze zu verarbeiten und die Professionalität zu sichern“ (Freitag und Schophaus 2017: 11). Mit ihr ist damit ein weiterer wesentlicher Grundstein hin zu einer „Reflexiven Polizei“ (Freitag und Schophaus 2017) gelegt und die Hoffnung verbunden, „die Organisationskultur der Polizei zu verändern“ (Schophaus 2017: 149).1

Nils Montabon hatte am 31. Mai 2023 in diesem Newsletter die Weltoffenheit der Polizei (normativ)2 so charakterisiert, dass mit ihr „eine Absage an Intoleranz, Diskriminierung und Kritiklosigkeit formuliert“ (Montabon 2023: .S.) wird. Weltoffenheit soll also – positiv gewendet – als Aufgeschlossensein gegenüber anderen Kulturen und diversen Lebensstilen verstanden werden. Hier scheint mir die BRR mit ihrem Reflexionsangebot anschlussfähig zu sein, weil genau diese Themen dort bearbeitet werden und Reflexion gemeinhin als Bedingung für Weltoffenheit angesehen wird. Gleichwohl ist das Feld der Polizei noch immer durch eine „Distanz zwischen Polizei und Bürgern [!]“, eine „Culture of Silence“ und ein traditionelles „Männlichkeitsbild“ (Schophaus 2017: 141ff.) geprägt. Zudem wird die Polizei in der Öffentlichkeit (insbesondere auch emotional) sehr unterschiedlich wahrgenommen und bewertet.

So beschreibt Raffael Behr in dem Lehr- und Studienbrief „Polizei.Kultur.Gewalt. Polizeiarbeit in der ‚offenen Gesellschaft‘“ die verschiedenen Abwehrstrategien, die eine Reflexion über die „Cop Culture“ erschweren (Behr 2016: 1ff.). Für ihn ist daher „[d]er Zweifel, nicht das selbstverständliche Wissen … [der] Ausgangspunkt aller Forschung“ (Behr 2016: 5) und – so möchte ich hinzufügen – allen Nachdenkens über die Polizei. Die Studierenden beginnen in diesem hoch ambivalenten Feld ihre Berufsausbildung, gleichwohl sind sie mit ihrer zukünftigen Berufsrolle als Polizeibeamtin beziehungsweise Polizeibeamter – so meine Erfahrung – hoch identifiziert.

Inwiefern kann die Berufsrollenreflexion nun den Anspruch einer weltoffenen Hochschule unterstützen und welche Bedingungen sind hierfür notwendig und wünschenswert? Sie sollte daher – so meine Argumentation – strukturell und konzeptionell sowohl für die Polizeiausbildung als auch für den Polizeidienst in den Behörden ausgebaut werden.

Ich werde zunächst – holzschnittartig – den Gegenstand (Kapitel 2) und die Arten (Kapitel 3) von Reflexion herausarbeiten, um daran anschließend die Möglichkeiten der Berufsrollenreflexion, aber auch ihre gegenwärtigen Grenzen zu beschreiben. Abschließend nenne ich einige Bedingungen für die BRR, die aus meiner Perspektive wichtig sind für eine weltoffene, das heißt zivilgesellschaftlich verankerte „Reflexive Polizei“ (Kapitel 4). Ich bin seit 2015 Dozent für die Berufsrollenreflexion an mehreren Standorten in NRW. Ich bin weder Polizeibeamter noch bei der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung (HSPV NRW) angestellt: insofern verstehe ich meine Gedanken als Blick von außen.

Gegenstand von Reflexion

Reflexion gilt heute als wichtige Fähigkeit und Voraussetzung für die Ausübung eines Berufs. Mit Ulrich Becks Buch zur „Risikogesellschaft“ (1987) könnte man zugespitzt formulieren, dass mit der „Zweiten Moderne“ auch die beruflichen Tätigkeiten notwendig reflexiv werden mussten. Reflexion – das wusste schon Aristoteles3 – ist eine Conditio Humana sine qua non: durch sie wird der Mensch aus einem bloß möglichen Vernunftwesen zu einem wirklichen Vernunftwesen, das sich durch Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein auszeichnet. Als eindrückliche Metapher gilt der Spiegel, in dem sich der Mensch selbst als Mensch erkennt. Reflexion ist somit eine denkende Zurückwendung auf die geistigen Akte selbst, als eine Art „Wissen des Wissens“ oder „Denken des Denkens“4. Dieses selbstreferenzielle Zurückwenden des Blicks kann verschiedene Inhalte als Gegenstand umfassen, auf die ein Nachdenken über ihre jeweiligen Bedingungen und Voraussetzungen zielt:

  • Reflektiere ich mich selbst in Hinblick auf meine Gefühle, Emotionen und Affekte oder auf meine unbewussten Anteile im Sinne der Psychoanalyse?
  • Reflektiere ich auf meine individuelle Biografie, auf meinen Habitus als inkorporierte Sozialstruktur oder reflektiere ich auf meine eigenen Handlungskompetenzen und realistischen Handlungsmöglichkeiten?
  • Reflektiere ich meine subjektiven Theorien und Deutungsmuster oder reflektiere ich auf mein implizites Wissen, das im Handeln zum Ausdruck kommt?
  • Reflektiere ich auf meine impliziten, nicht hinterfragten Werte und Normen und ihre dahinterliegenden Menschenbilder oder reflektiere ich auf die Voraussetzungen und auch Widersprüche, die diesen ethischen Grundannahmen zugrunde liegen?
  • Reflektiere ich auf meine Berufsrolle im Spannungsfeld von Person, Rolle und Organisation oder im Hinblick auf meine konkreten Inter- und Intrarollenkonflikte?
  • Reflektiere ich die Paradoxien, Antinomien und Ambivalenzen meines Berufs oder meiner Profession?
  • Reflektiere ich meine Organisation auf ihre Möglichkeiten und Grenzen, auf ihre Zielkonflikte oder auf ihre ethischen Grundannahmen und die dahinterliegenden Menschenbilder?
  • Oder reflektiere ich meine Organisation im Hinblick auf meine eigenen Möglichkeiten und Grenzen, zum Beispiel darauf, dass ich mich selbst verwirklichen kann oder im Hinblick auf einen möglichen „moral distress“?
  • Oder reflektiere ich – als Wissenschaftler/in, als berufliche/r Expertin/Experte oder als informierte/r Bürger/in – die wissenschaftlichen Grundannahmen und Axiome meines Wissens?

Den ausführlichen Beitrag zu diesem Thema können Sie in der beigefügten PDF-Datei nachlesen:

1 Zur Konzeption des Studienmoduls siehe Freitag 2017: 15ff. und auf der Homepage der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen (HSPV NRW): https://www.hspv.nrw.de/studium/bachelorstudiengaenge/studienvorschriften-inhalte/pvd/aktuelle.

2 „Weltoffenheit“ in diesem Zusammenhang bedeutet keine deskriptive Beschreibung des Menschen, wie zum Beispiel im Sinne einer philosophischen Anthropologie eines Helmuth Plessners, der die „exzentrische Positionalität“ des Menschen hervorhebt, oder Arnold Gehlen, der ihn als instinktreduziertes „Mängelwesen“ charakterisiert, das nicht auf einen bestimmten Lebensraum angewiesen ist und deshalb weltoffen sein muss.

3 Aristoteles schreibt in der Nikomachischen Ethik: „[…] wenn nun der wahrnimmt, der sieht, daß [!] er sieht, und hört, daß [!] er hört, und als Gehender wahrnimmt, daß [!] er geht, und wenn es bei allem anderen ebenso eine Wahrnehmung davon gibt, daß [!] wir tätig sind, so daß [!] wir also wahrnehmen, daß [!] wir wahrnehmen, und denken, daß [!] wir denken: und daß [!] wir wahrnehmen und denken, ist uns ein Zeichen, daß [!] wir sind“ (Aristoteles: X 9, 1170a28ff.).

4 Vgl. den Beitrag bei Wikipedia für einen ersten Einstieg in das Thema „Reflexion“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Reflexion_(Philosophie)#Ph%C3%A4nomenologie_und_Existentialismus, abgerufen am 19.07.2023).