Symposium „Sicherheit und Gewaltprävention in Kommunalverwaltungen“Mit der Axt ins Jobcenter – Symposium in Gelsenkirchen diskutiert Gewaltprävention in kommunalen Dienststellen

Mit der Axt ins Jobcenter – Symposium in Gelsenkirchen diskutiert Gewaltprävention in kommunalen Dienststellen

Fälle roher Gewalt, der Mord im Jobcenter Neuss, die Axt im Jobcenter Berlin, bilden die Ausnahme. Aber unterhalb der „Spitze des Eisberges“, so die Vizepräsidentin der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Gelsenkirchen, Prof. Dr. Iris Wiesner, entwickelte sich in den letzten Jahren eine Gewaltkultur, der man konzeptionell begegnen muss.

Vorgestellt wurden die Ergebnisse einer von der komba gewerkschaft nrw initiierten Studie des Instituts für Polizei und Kriminalwissenschaften an der FHöV, die Konsequenzen einfordert. Susanne Köllner, stv. Komba Landesvorsitzende, unterstreicht die Forderung der kommunalen Fachgewerkschaft an die Städte, Gemeinden und Kreise, nachhaltige Sicherheitsstrategien zu entwickeln. Köllner: „Mit wissenschaftlicher Unterstützung wollen wir gemeinsam mit unseren Personal- und Betriebsräten ein Konzept zur Gefahrenabwehr und Gewaltprävention im kommunalen Dienst schaffen.“

Studienleiter Prof. Dr. Bernhard Frevel und sein Team untersuchten nicht die spektakulären sondern die alltäglichen Gewalterfahrungen und deren Folgen: Beleidigungen, Bedrohungen, nervenaufreibende Konfliktgespräche. Inzwischen sind nach komba Erkenntnissen zahlreiche Bereiche der Kommunen betroffen: Vor allem Jobcenter, aber auch Dienststellen der Sozial-, Jugend- und Ordnungsämter, Vollzugsdienste, Rettungsdienste, Feuerwehr, Stadtordnungsdienste, Bus- und Bahnfahrer, Verkehrsüberwachungskräfte. Susanne Köllner aus Erfahrung. „Es gibt kaum noch gewaltfreie Bereiche“.

Die FHöV in ihrer Untersuchung zitierte aus einem Hamburger Lagebild. 2010 wurden 1266 Vorfälle registriert, 2011 bereits 1583. Die Hälfte der Vorfälle ereignete sich in Hamburger Jobcentern. Opfer waren je zur Hälfte  männliche und weibliche Beschäftigte, die Täter zu 70 % männlich. Bei 17 Prozent der Fälle wurde körperliche Gewalt angewendet.

Gewaltprävention ist Bürgermeisterpflicht

In der Studie analysiert das Forschungsteam die Ursachen von Gewalt, die in der Person des Täters oder des Opfers, aber auch in baulichen, technischen und organisatorischen Mängeln liegen können. Ausführlich geht die Studie auch auf die Folgen von Gewalterlebnisse für Betroffene sowie für die Verwaltungen ein.  Nicht nur in der Studie, auch in den Fachreferaten, Arbeitskreisen und Diskussionsrunden wird die Rolle der Behördenleitung skizziert. Kernthese: „Gewaltprävention ist Bürgermeisterpflicht“.  Die Studie setzt sich für eine dauerhafte Anti-Gewalt-Strategie, ein professionelles Informations- und Notfallmanagement für eine enge Vernetzung von Sicherheitspartnern ein.

Landesinnenministerium: Prävention trainieren

„Niemand darf mit konkreten Gewalterfahrungen alleine gelassen werden“, forderte Ministerialdirigent Johannes Winkel, Abteilungsleiter „Kommunale Angelegenheiten“ im Ministerium für Inneres und Kommunales NRW.   Vor  130 Fachleuten aus Kommunalverwaltungen bestätigte der 59jährige Jurist, auch nach Erkenntnissen des Ministeriums gehöre „physische und psychische Gewalt mittlerweile zu den Alltagserfahrungen in öffentlichen Verwaltungen“.  Schutz vor Gewalt sei eine wichtige Aufgabe für jede Behördenleitung. Neben dieser Forderung an die Leitungsverantwortung von Vorgesetzten richtet Johannes Winkel einen Appell an die Dienststellen und an alle, die für das Personal Verantwortung tragen: „Das richtige Verhalten in gewaltgeneigten Situationen kann und sollte geübt werden“.

Gewalterfahrungen bedrohen psychische und physische Gesundheit - Frühzeitige Interventionen können Folgestörungen vermeiden

Die Bereitstellung von Maßnahmen zur psychischen Bewältigung von Extrembelastungen wird irrtümlicherweise nicht als eine notwendige Fürsorgepflicht des Arbeitgebers gegenüber den eigenen Mitarbeitern wahrgenommen. Diese berufliche Erfahrung beklagte Dipl. Psychologe Wolfgang Heiler (Leitender Notfallpsychotherapeut des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Psychiatrie Verbundes) auf dem Gelsenkirchener Symposium. In seinem Referat berichtet der Leitende Psychologe der LWL-Institutsambulanz Marsberg die Folgen körperlicher und verbaler Gewalterfahrungen und die Wirkungen frühzeitiger und professioneller Interventionen, z.B. durch kollegiale Ersthelfer.

Langfristig können Erfahrungen wie körperliche Übergriffe oder auch anhaltende verbale Angriffe und Bedrohungen können dazu führen, dass die psychische und physische Gesundheit beeinträchtigt werden. Bei einer unzureichenden Bewältigung der belastenden Erlebnisse kann es zu Folgestörungen mit Krankheitswert kommen. Frühzeitige Interventionen können dagegen zu einer raschen Reduktion der genannten Symptome führen und helfen die Entwicklung psychischer Erkrankungen, als Folgestörungen zu vermeiden.

Der zunehmende Fachkräftemangel führt zu einer Veränderung im Umgang mit den vorhandenen personellen Ressourcen. So wird es (inzwischen) von Verwaltungsleitungen oder Geschäftsführungen als ökonomisch sinnvoll erachtet, auf das wachsende Bedürfnis nach praktischer und emotionaler Unterstützung  von Mitarbeitern, die direkt oder indirekt von einem Übergriff betroffen sind, in Form von frühzeitiger adäquater psychologischer Hilfe zu reagieren, so dass Betroffene schneller in ihren Alltag und zu ihrer Arbeit zurückkehren können.

Komba: Bürgerfreundliche Kommunalverwaltung und Sicherheit für das Personal müssen kein Widerspruch sein

Gewalt wird nicht akzeptiert. Der zweite Landesvorsitzender der komba gewerkschaft, Hubert Meyers : „Wir werden keine Gewalt gegen unser kommunales Personal hinnehmen oder akzeptieren“. Personal- und Betriebsräte vor Ort sowie die Orts-/Kreisverbände und Fachgruppen der komba, werden die Dienstherren auffordern, mehr in die Sicherheit vor Ort zu investieren. Basis dafür ist das Positionspapier der komba gewerkschaft zur Studie von Prof. Frevel, das Meyers in seinen Grundzügen vorstellte. Generelle Aussage: Gewalt darf nicht verharmlost, die Folgen für die Gesundheit des betroffenen Personals müssen beachtet werden.

Es gehe jetzt darum, einen Weg zu finden, in der eine offene, bürgerfreundliche Kommunalverwaltung mit dem Anspruch auf Sicherheit kommunaler Beschäftigten in Einklang stehe. Dies sei kein unlösbarer Konflikt. Das Maßnahmenpaket: Die Themen müssten Eingang finden in die Ausbildung des kommunalen Nachwuchses, in Bauplanungen, Organisationsentscheidungen, Sicherheitsübungen sowie in der Sensibilisierung der Führungskräfte und der Beschäftigten im direkten Kundenkontakt. Gemeinsam mit Vorgesetzten, Personal- und Betriebsräten, Arbeits-, Gesundheitsschutz,  Sozialdiensten  sowie der Polizei sollen kommunalbezogene Sicherheitskonzepte entwickelt werden. Zur Ausbildung von Beschäftigten in den Bürgerdiensten gehöre mehr als Fachwissen. Es reiche auch nicht aus, Scheren oder Locher als potenzielle Wurfgeschosse vom Schreibtisch zu nehmen. Die Kolleginnen und Kollegen müssten sensibilisiert werden für „Stresssituationen“, aus denen Konflikte entstehen könnten und richtiges, auch deeskalierendes  Verhalten einüben. Weiterbildung- und Trainingsmaßnahmen sollen Wissen über gruppendynamische Prozesse, aber auch Informationen über die Publikumsstruktur vermitteln. Einen Teilaspekt bildet die Arbeit für und mit  Migranten und Flüchtlingen.  Die aktuelle Flüchtlingswelle bringe neue Herausforderungen. Dazu gehören Sprachprobleme und unterschiedliche Werte und  Kulturen.   Auch die Nachsorge müsse einen neuen Stellenwert in der Verarbeitung der Alltagserfahrungen erhalten und die Betroffenen lernen, dass es keine Frage angeblich überzogener Empfindlichkeit ist, über belastende Erfahrungen zu sprechen. Dazu seien vielerorts aber eine neue Offenheit und eine andere Kommunikationskultur erforderlich, betonte Hubert Meyers. Er bescheinigte dem Publikum aber auch, in einer deutlichen Mehrheit friedlich und kooperativ zu sein.

Workshops und Podium

In Workshops wurden die zentralen Erkenntnisse und Schlussfolgerungen diskutiert. Praktiker vertieften in einer Podiumsdiskussion, u.a. mit dem Bürgermeister von Bergisch Gladbach, Lutz Urbach, und Dirk Kursim, komba Personalrat in Bielefeld,  örtliche Erfahrungen und Umsetzungsmöglichkeiten für die durch die Studie gewonnenen Erkenntnisse.