Philosophische StreifzügeKosmopolitismus I
Weltbürgerlichkeit mit Kant
Die Gedanken zu einem Kosmopolitismus reichen, wie so häufig, weit bis in die Antike, bis zu den – wie könnte es anders sein – „alten Griechen“ zurück. Hier sei jedoch aus dem großen Arsenal eines Denkens von Kosmopolitizität nur ein Schlaglicht, wenn auch an einer gewichtigen Stelle geworfen, nämlich auf ein Denken von Weltbürgerlichkeit bei Kant – passend zum 300. Geburtstag des Philosophen, dessen Reflexionen in die Gegenwart hineinwirken und uns bis heute prägen.
Kant reflektiert im Rahmen seiner Überlegungen zur Weltbürgerlichkeit auf eine Basis, die uns allesamt auf der Welt betrifft, respektive auf uns zutrifft, und kommt in diesem Zuge auf ein Weltbürgergesetz.1 Er entwirft ein Gesetz der „Hospitalität“, das ein bloßes Besuchsrecht ist, aber dafür jedem qua Menschsein aufgrund der Kontingenz eines jeden Geburtsorts zukommt, da genau dies nach Kants Auffassung niemandem ein Vorrecht gibt, an einem bestimmten Ort auf der Welt zu sein. Auf diese Weise markiert es ein ethisches Minimum im Gegensatz zu einem viel exklusiveren Gastrecht. Dass es als Weltbürgergesetz bezeichnet wird, unterstreicht die Relevanz und den Anspruch, der mit ihm gesetzt ist. Nur wenn alle sich auf Grundlage eines solchen Besuchsrechts weltweit bewegen können, kann aus Kants Perspektive eine Befriedung der Welt in Aussicht gestellt werden.
Kant ist dabei, wie später auch Hannah Arendt, bewusst,2 dass ihm – gleich einer anachronistisch gesprochen: „Antinomie des Weltbürgerrechts“ – ein verbindlicher Rahmen, in dem es eingefordert werden könnte, fehlt und fehlen muss, da ansonsten ein Weltstaat vorausgesetzt werden müsste, der jedoch wegen unweigerlich entstehender totalitärer Strukturen gerade nicht angestrebt wird. Hier wird der Rückgriff auf das Recht allein also auf Dauer keine Abhilfe schaffen können. Stattdessen sind wir immer wieder „nur“ auf einander und unsere potenzielle Humanität verwiesen. Kant reflektiert dabei – wie gleichfalls später Arendt3 – auf die Begrenztheit der Erde und ihrer Ressourcen und den Umstand, letztlich von ihr nicht fliehen zu können, sondern sich schließlich doch „dulden zu müssen“, weil wir die Welt bewohnen und teilen, ob wir wollen oder nicht.
Kant geht mit seinem Besuchsrecht von einer sehr bescheidenen Minimalethik aus und auch Arendt weist als inspirierte Kant-Exegetin darauf hin, dass wir uns bei dieser Frage offenbar besser an die „Idee“ von Weltbürgerlichkeit als Anspruch und nicht an die Wirklichkeit halten, letztere dürfte zu frustrierend bis abschreckend sein, und dass „Welthaftigkeit“, die von ihr hervorgehobene menschliche Eigenschaft, bei aller Offenheit, nicht so sehr in Einigkeit, als vielmehr in Uneinigkeit besteht. Die wird allerdings von ihr – wie schon bei Kant – kritisch, das heißt produktiv gedacht. Dies könnte ein entscheidendes Differenzkriterium zum gegenwärtigen öffentlichen Diskurs sein, der sich teils in Weisen entäußert, die mit Ausgrenzung viel Stimmung erzeugen und auch offenkundig manipulative Macht entfalten, denen aber damit genau all das entgleitet, was offene Diskurse und Diskussionen ausmacht, eine Basis, die von einem Verstehen-Wollen und Kritik, der Selbstkritik inhärent ist, getragen wird.
Und hierzu finden sich schon in Kants dritter kritischen Schrift, der Kritik der Urteilskraft, wichtige Spuren zur Bedeutung der Weltbürgerlichkeit, die Hannah Arendt später in einer anderen Spielart und Auffassung eben als „Welthaftigkeit“ bedenken wird. Dort, in Kants dritter Kritik, steht der Gedanke in Verbindung zur zweiten Maxime des gesunden Menschenverstandes, „sich jederzeit an die Stelle eines anderen versetzen zu können“4, was wir gemeinhin als Empathie bezeichnen würden, hier jedoch vielmehr unter dem positiven Vorbehalt steht, dass es einen „Mann“ – modernisiert wäre von „Mensch“ zu sprechen – also einen „Menschen von Welt“ ausmacht.5 Es ist jemand, der sich angeregt, herausgefordert durch andere Urteile und zur Selbstkritik bereit, aus der Komfort-Zone eigener Vorurteile begibt. Das heißt eine solche weltbürgerliche Person ist erst einmal dazu bereit, eigene Urteile kritisch anhand anderer zu prüfen. Auf diese Weise bewegt sie sich im Denken wie in der Welt und erweist sich in einer Haltung der Offenheit letzterer gegenüber.
Darüber hinaus wird hier jedoch in der kritischen Auseinandersetzung mit der Bedeutung des sensus communis, des „Gemeinsinns“, deutlich, dass für Kant derselbe mitnichten etwas „Gemeines“ im Sinne von gemeinhin und gewöhnlich ist, sondern nichts Geringeres als die Idee eines alle verbindenden gemeinschaftlichen Sinns, kurz die Idee, dass uns Menschen so etwas wie eine Verbundenheit in Humanität möglich ist. Um ihr jedoch nah zu kommen, bedarf es auch einer solchen Idee als Anspruch eines jeden Einzelnen, unter den wir uns stellen, damit überhaupt so etwas wie Gemeinschaft möglich wird, denn das, was wir häufiger miteinander erleben, zeugt weniger davon.
Bei allem Anspruch auf das Ideelle zeugen Kants kosmopolitische Überlegungen gerade darin auch von einem großen Realismus.
Der Weltphilosoph aus Königsberg, das er nie verließ, hat uns die Grundlagen der Menschenwürde bereitet, die mit dem 1. Artikel des Grundgesetzes die ganze Verfassung bis in alles staatliche Handeln hinein konturiert und darüber hinaus auch das internationale Recht. Dass derselbe Denker, der uns ebenso die wichtigen Hinweise und Spuren zu einem gleichfalls vom Anspruch der Menschenwürde getragenen Denken von Weltbürgerlichkeit gegeben hat, sich gleichsam selbst der heutigen Rassismus-Frage stellen muss (siehe auch den Bericht zur Forschungswerkstatt „Rassismus in der Aufklärungsphilosophie“)6 und sich auch gemäß seiner aufklärerischen Überzeugungen stellen würde, gehört zu jenen Ambivalenzen, auf die gegenwärtig gerne mit der Notwendigkeit einer Ambiguitätstoleranz hingewiesen wird. Tatsächlich sind Widersprüche und Doppeldeutigkeiten zuweilen auszuhalten, vor allem aber gilt es, mit solchen Ambi- bis Polyvalenzen beherzt im Sinne der Menschenwürde, Weltbürgerlichkeit und Weltoffenheit umzugehen, angesichts eines sich zunehmend in problematischer Weise abschottenden Europas, eines hochgradig gefährlichen Rechtsrucks auf unserem Kontinent und einer Geschichte der Kosmopolitizität, die bereits mit den „alten Griechen“ beginnt, denen aber bekanntlich alle anderen „Nicht-Griechen“ nichts als „Barbaren“ waren.
1 Siehe Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: ders.: Werkausgabe. Bd. XI. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M 1977. S. 191 - 251. B 3 - B 112, A 3 - 104. Hier insbesondere S. 213 - 217. BA 39 - 49.
2 Die Formulierung wurde in Anlehnung an Arendts „Antinomien der Menschenrechte“ gewählt. Siehe Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. 20. Aufl. München 2017. S. 601 - 625.
3 Siehe hierzu Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. Hrsg. u. mit einem Essay v. Ronald Beiner. Aus dem Amerik. v. Ursula Ludz. München 1998. Bes. S. 98 - 103.
4 Wörtlich heißt es bei Kant so: „2. An der Stelle jedes andern denken“. Siehe Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Bd. X. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974. S. 226. B 158, A 156. [Künftig zitiert: Kant: KdU.]
5 Vgl. Kant: KdU. S. besonders den § 40. B 160, A 158. Zur Thematik der Weltbürgerlichkeit unter den Maßgaben der „erweiterten Denkungsart“ siehe auch Frauke A. Kurbacher: „Weltbürger sein – Weltbürger werden – weltweit. Zur Kritik des Kosmopolitismus“. In: Tà katoptrizómena. Hrsg. v. Andreas Mertin u. Frauke A. Kurbacher, Heft 127 (2020). Online verfügbar unter: https://www.theomag.de/127/fk18.htm (zuletzt abgerufen am 30.09.2024).
6 So verwies etwa Franziska Dübgen in ihrem Vortrag bei der 2. Forschungswerkstatt zum Thema „Rassismus in der Aufklärungsphilosophie“ am 6. Juni 2024 an der HSPV NRW – wie auch andere Forscher – darauf, dass sich rassistische Elemente und Motive nicht nur in Kants Frühwerk, was gemeinhin bekannt ist, auftauchen, sondern bis in das Spätwerk durchziehen. Gleichzeitig finden sich aber zum Beispiel in dem hier zitierten „Dritten Definitivartikel zum Ewigen Frieden“, der das „Gesetz der Hospitalität“ ausführt (unter anderem mit dem Gedanken einer weltweiten Bewegungsfreiheit für jede Person), gleichzeitig heftige Kritiken Kants an den menschenverachtenden Kolonialpraktiken seiner Zeit, was den oben angesprochenen Ambivalenzcharakter vielleicht noch einmal zu unterstreichen vermag. Die Epoche, die Kant als „Zeitalter der Aufklärung“ bezeichnete, hat einen besonderen Akzent auf Kritik und das Kritische gelegt und uns damit zugleich Entscheidendes an die Hand gegeben, was wir zu ihrer, aber zur Rassismus-Kritik überhaupt bedürfen.