Fremdsprachen und der NationalstaatDas Fremde

Im Mittelpunkt des Beitrags steht das Thema Fremdsprachen und Nationalstaat.
Im Mittelpunkt des Beitrags steht das Thema Fremdsprachen und Nationalstaat.

Ein politikwissenschaftlicher Blick auf „das Fremde“

Als Student lebte ich in einem Wohnheim in Bonn. Was mich an vielen meiner Mitstudierenden beeindruckte, war die Vielfalt an Sprachen, die sie beherrschten. Besonders die Kameruner fielen mir durch ihre Sprachvielfalt auf. Muttersprache der Meisten war eine der in Kamerun verbreiteten Sprachen (zum Beispiel Tiv, Yoruba oder Foto), ihre Schulbildung hatten sie auf Französisch erworben, Englisch sprachen sie (natürlich) auch und weil sie in Bonn studierten, konnten sie (horribile dictu!) auch Deutsch. Diese kamerunischen Sprachgenies traf man immer wieder einmal beim Schwätzchen mit der portugiesischen Putzfrau an – obwohl keine/r von ihnen Portugiesisch sprach.

Und das ist im Grunde schon das Thema, das ich hier kurz anreißen möchte. Es geht um das Fremde aus politikwissenschaftlicher Sicht. Denn aus politischer Perspektive ist das Fremde häufig in einem anderen Staat beheimatet, in dem eine fremde Sprache – eine Fremdsprache – gesprochen wird. Der aktuelle Ukrainekonflikt macht das deutlich. In seinem Vorfeld wurde heftig um das Ukrainische als einzige Nationalsprache debattiert. Mehrfach musste über Schlägereien aus dem Parlament in Kiew berichtet werden, weil man sich in der Frage nicht einig wurde. Und heute wird vorgetragen, einer russischsprachigen Minderheit müsse mit Waffengewalt zu ihrem Recht verholfen werden.

Meine kamerunischen Mitbewohner haben mir vor Augen geführt, wie jung und wie einsam europäisch doch diese Idee ist, dass es einen Nationalstaat gebe, auf dessen Territorium genau eine Sprache gesprochen wird. Wenn wir uns die ca. 200.000-jährige politische Geschichte des Menschen auf einem handelsüblichen Zollstock vergegenwärtigen, dann wird überdeutlich, WIE jung diese Idee ist. Denn auf den ersten anderthalb Metern ist nicht in Ansätzen so etwas wie ein Staat zu erkennen. Höhlenmalereien beginnen ab 1,60 Meter, Sesshaftigkeit frühestens auf 1,80 Meter. Das Neolithikum findet ab 1,89 Meter statt, die ersten schriftlich festgehaltenen Gesetze kommen ab 1,96 Meter. Hier finden wir auch erste – damals noch vielsprachige – Imperien. In diesen Imperien waren häufig heilige Sprachen (Griechisch, Latein, Arabisch) beim wahrsten Sinne des Wortes tonangebend. Nationalstaaten mit ihren jeweils eigenen Nationalsprachen kommen erst im Millimeterbereich ab 1,99 Meter vor.

Was ich im Studentenwohnheim bestaunte, ist in den meisten Ländern dieser Welt eine absolute Normalität. Selbstverständlich sprechen die Menschen dort mehrere Sprachen. Es gibt halbwegs solide Schätzungen, die den Anteil von Menschen, die nur eine Sprache sprechen, auf weltweit maximal 40 Prozent taxieren. Und man kann davon ausgehen, dass dieser Anteil noch vor einem Jahrhundert deutlich kleiner war.

So setzte sich zum Beispiel das Französische als alleinige Nationalsprache in Frankreich erst mit der Einführung der obligatorischen Grundschule ab Ende des 19. Jahrhunderts durch. Aus dieser Zeit stammen die Hinweisschilder, es sei „verboten, bretonisch zu sprechen und auf den Boden zu spucken“.  Der Nationalstaat setzte sich also vor etwas über einhundert Jahren sprachlich gegen seine Minderheiten durch. 

Das führte dazu, dass Sprachen einander fremder wurden, man begegnete im 20. Jahrhundert einer anderen Sprache häufig erst dann, wenn man eine nationalstaatliche Grenze überquerte. Das wiederum führte zu einer gewissen Verkrampfung Fremdsprachen gegenüber. Während zuvor ein vielleicht mitunter recht mutiges Radebrechen üblich war, wurde nun das pädagogische Ziel ausgerufen, eine Sprache „richtig“ zu lernen. Und erst, wer eine Sprache „richtig“ beherrschte, durfte sie sprechen. Es kann deswegen wenig verwundern, dass die abwertende Nutzung des Wortes „Kauderwelsch“ zeitgleich mit der Entstehung und Stabilisierung des deutschen Nationalstaates auftrat:

DWDS-Wortverlaufskurve „Kauderwelsch“
DWDS-Wortverlaufskurve „Kauderwelsch“

Waren andere Sprachen als die eigene also noch bis ins 19. Jahrhundert etwas, womit jemand zu rechnen hatte, der nur ein bisschen reiste, so wurde eine einheitliche, auf einem nationalen Territorium gesprochene Nationalsprache zunehmend der gesellschaftliche Normalfall. Radio und Fernsehen taten ihr Übriges, um diese national-sprachlichen Monokulturen auszubauen.

Die aktuelle Diskussion um die Einführung einer zweiten Amtssprache in Deutschland beschreibt aus dieser Perspektive betrachtet einen interessanten historischen Bogen. Dass eine Sprache das Monopol über ein großes Territorium erringt und auch noch hält, ist nämlich eher die politische Ausnahme als die Regel. Es ist zu vermuten, dass Mehrsprachigkeit sogar eher ein gesamtgesellschaftlicher „Normalzustand“ ist, dem nicht mit Hinweisschildern beizukommen ist. Das Fremde wäre uns dann in Form von Fremdsprachen deutlich näher als wir uns das manchmal eingestehen wollen.

Eine Polizei-Dienstgruppe, bei der ich vor einiger Zeit eine Nachtschicht begleiten durfte, zeigte das in eindrücklicher Weise auf: Hier wurde Deutsch gesprochen, aber in Summe beherrschte die Dienstgruppe daneben auch noch Arabisch, Türkisch, Polnisch, Englisch, Französisch, Kroatisch und Russisch. Daraus wurde gar kein Aufheben gemacht – kein Fernsehsender hat je die „interkulturelle Wache“ interviewt, kein Integrationspreis wurde der Gruppe zugesprochen. Hier legen unsere Absolventen eine (zumindest sprachliche) selbstverständliche Weltoffenheit an den Tag, die wir uns nur wünschen können.

Literaturempfehlungen

Jürgen Kaube hat 2017 mit „Die Anfänge von allem“ einen schönen historischen Aufriss über alle mögliche Menschheitsentwicklung vorgelegt, in dem es unter anderem um die Sprache (S. 81-99) und den Staat (S. 207-229) geht.

Ich selbst habe zu Beginn des Ukrainekrieges einen Artikel geschrieben, der sich mit Sprachpolitik und der Zukunft des Staates befasst. Dieser ist online veröffentlicht: Wir können auch anders – humanistisch! Das Magazin