Philosophische Streifzüge*Das Fremde

Im Mittelpunkt des Beitrags steht das Thema Fremdheit
Im Mittelpunkt des Beitrags steht das Thema Fremdheit

Das Fremde ist philosophisch gesehen kein randständiges oder Einzelthema, sondern kann als Grundelement, als ein Konstitutivum von Erfahrung gelten – und zwar nicht nur von einer Erfahrung des Fremden oder mit dem Fremden, sondern von jeglicher Erfahrung. Hier geht es also nicht nur um die Fremderfahrung, gleichsam wie ‚von außen‘, sondern gerade um das Fremdwerden der eigenen Erfahrung.

Philosophiehistorisch betrachtet wird das Thema des Fremden vor allem ab dem 20. Jahrhundert in eigener Weise aufgegriffen und bedeutsam. Edmund Husserl, Georg Simmel, Maurice Merleau-Ponty oder Julia Kristeva sind wichtige (Vor-)Denker/innen des Fremden und auch Jacques Derrida, Hannah Arendt und Vilém Flusser.1 Die Abgründe des Zivilisationsbruchs, insbesondere durch die NS-Ideologie und den 2. Weltkrieg, haben Theorien des Anderen und eine Philosophie des Fremden als problematische Defizite bisheriger philosophischer Tradition besonders spürbar werden lassen. Wobei das Andere und das Fremde nicht identisch sind. Für die Theorie des Anderen steht insbesondere Emanuel Lévinas; die „Phänomenologie des Fremden“ hat Bernhard Waldenfels (*1934) eigens herausgearbeitet.2 Beide Ansätze konfrontieren das Denken mit etwas Unverfügbaren und in beiden wird der theoretisch wie praktisch herausfordernde Anspruch laut, dem Anderen als Anderen und dem Fremden als Fremden wirklich Rechnung zu tragen.3 Dies bedeutet in Auseinandersetzung mit dem Fremden, im Denken des Fremden und im Umgang mit ihm, dasselbe nicht gleich wieder in seiner Eigenheit einzuebnen, das heißt, es weder als eine Notwendigkeit der Konturierung des Eigenen zu begreifen,4 noch es einfach unter das Allgemeine zu ordnen und damit genau das Fremdartige des Fremden wieder zum Verschwinden zu bringen. Vielmehr geht es darum, es in seiner Eigenheit, Vielschichtigkeit und Ambivalenz wahrzunehmen und gegebenenfalls anzuerkennen.

Nach Waldenfels ist das Fremde als Relationsphänomen nicht unabhängig von unseren jeweiligen Ordnungsvorstellungen, die ex negativo immer auch mitbestimmen, was als ‚außerordentlich‘ gilt, wobei wir Menschen – in Anschluss an die kritische philosophische Anthropologie Helmuth Plessners – als „Grenzwesen“ und damit sowohl als ordnungsbildend, als auch als ordnungsüberschreitend verstanden werden. Des Weiteren unterscheidet Waldenfels eine relative von einer radikalen Fremdheit. Während die erste Zugänge ermöglicht und sogar angeeignet werden kann, wie etwa eine Fremdsprache, beschreibt die zweite ein Moment des Fremden, das auf faszinierende bis erschreckende Weise gerade nicht depotenzierbar, unzugänglich ist und sich sogar entzieht. Entscheidend aber erweist sich Waldenfels‘ Situierung des Fremden in der Erfahrung selbst, die er als eine in sich unaufhebbar gebrochene und dennoch zusammengehörige begreift und sie daher als „diastatische“ Erfahrung bezeichnet (von griechisch diastasis für Kluft etc.). Ein Teil unserer Erfahrung weist Passives auf, etwas widerfährt uns, trifft uns, fällt auf, lässt uns aufmerken und kann damit als „Einfallstor“ für das Fremde verstanden werden, zugleich ‚reagiert‘ ein anderer Teil unserer Erfahrung aktiv und kreativ responsiv auf dieses Widerfahrnis und bietet Antworten an – doch erst beides zusammen bildet das, was wir Erfahrung nennen, die zudem mit unserem Leib-Körper verbunden ist.5

Mit diesem grundlegenden Aufweis des Fremden als unverbrüchliches Moment einer jeden Erfahrung zeigt sich die Thematik des Fremden für uns Menschen als elementar und unabdingbar und nicht als etwas zu Überwindendes oder Fortzudenkendes, was einfach ‚wegrationalisiert‘ werden könnte. Gleichzeitig legt der Philosoph des Fremden mit Bedacht einen Akzent auf die Vielfältigkeit des Phänomens und unsere ebenso vielfältigen Reaktionen darauf und mit Blick auf die Interkulturalität auf das „Zwischen“ den Kulturen, weil die eigene Leib-Körperlichkeit nicht überspringbar ist und jedes „wir“ von einem „ich“ gesprochen wird. In seiner so grundlegenden wie realistischen Differenzierung des Fremden bietet der philosophische Ansatz gute Grundlagen für vielfältige kritische Auseinandersetzungen mit dem Fremden, auf das wir je und je bezogen sind, ohne dass es in uns, noch wir gänzlich in ihm aufgehen.

* Erläuterung zu den „philosophischen Streifzügen“

Viele der das „Netzwerk Weltoffene Hochschule“ (WoH) an der HSPV NRW betreffenden Themen haben einen hochgradigen philosophischen Gehalt, wiewohl Philosophie selbst kein Fach an der HSPV NRW ist.

Bei den in unregelmäßigen Abständen erscheinenden „philosophischen Streifzügen“ in der Rubrik der WoH im Newsletter der HSPV NRW geht es genau um dieses Potenzial und solche Themen, die geradezu nach einer philosophischen Reflexion verlangen und gleichzeitig zur interdisziplinären Auseinandersetzung und Perspektivierung aus unterschiedlichen Fachrichtungen einladen.

1 Besonders in Verbindung zum Thema der Migration.

2 Siehe zum Beispiel Bernhard Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a. M. 2006.

3 Dieser Anspruch kann als phänomenologisch-ethischer nach Verantwortung verstanden werden.

4 So wie fälschlicherweise häufig gewähnt wird, eigene Identität, die philosophisch selbst reflexiv in sich gebrochen begriffen wird, nur in Abgrenzung zu Anderem und Fremden gewinnen zu können.

5 Das von ihm als „Rätsel des Leibes“ bezeichnete, zwischen Subjekt und Objekt changierende Verhältnis, das wir zu unserem Leib-Körper einnehmen, den wir haben und der wir sind, ist ein weiteres Beispiel für die Berührung des Fremden im Eigenen (das kranke Körperteil etwa, das uns wie ein Fremdkörper anmutet).