Entwicklung des AntisemitismusEine historische Betrachtungsweise

Was bedeutet eigentlich Antisemitismus?

­­­Antisemitismus bezeichnet laut dem Historiker und Sprachwissenschaftler Dietz Bering „eine aggressive, politisch akzentuierte, umfassende Lebenseinstellung, die von der grundsätzlich nichtswürdigen Wesensart der Mitglieder des jüdischen Volkes ausgeht.“1 Es handelt sich hierbei somit um eine Einstellung, die jüdische Menschen als minderwertig betrachtet und sich daher in menschenfeindlichen Denk-, Sprech- sowie Verhaltensweisen gegenüber diesen niederschlägt.

Diese Einstellung gibt es nicht erst seit dem Dritten Reich und sie ist nicht mit Ende des zweiten Weltkriegs oder der Auseinandersetzung mit der Shoa verschwunden. Im Gegenteil, Antisemitismus ist Jahrhunderte alt und mal stärker, mal schwächer ausgeprägt in sämtlichen Teilen und Gruppen unserer Gesellschaft vertreten.2 Und das, obwohl es immer wieder Warnsignale gab und gibt, was für gewaltsame Auswüchse dieser finden kann. Hier ist nicht nur auf den Anschlag auf eine Synagoge in Halle an der Saale im Jahr 2019 zu verweisen, sondern auch auf die Zahl erfasster antisemitischer Delikte. Diese ist seit 2015 kontinuierlich gestiegen und mit 2.351 Delikten war sie letztes Jahr so hoch wie seit mindestens 20 Jahren nicht.3 Doch wie schafft es der Antisemitismus, sich derart hartnäckig in unserer Gesellschaft festzusetzen? Hierzu ist eine historische Betrachtungsweise unabdingbar, da nur diese aufzeigt, wie der Antisemitismus sich bis in die heutige Zeit entwickelt und gehalten hat.

Aus dem Konkurrenzverhältnis von Judentum und Christentum wurde Judenhass in den ersten Jahrhunderten n. Chr. religiös begründet. Jüdische Menschen wurden aufgrund der biblischen Kreuzigungsgeschichte als Christusmörder bezeichnet. Im Mittelalter waren jüdische Menschen in Europa eine religiöse Minderheit und wurden gezielt von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen, sie wurden in eigenen Dörfern und Stadtteilen angesiedelt und es wurde ihnen schier unmöglich gemacht, in Handwerksgilden einzutreten. Da Zinsgeschäfte zur damaligen Zeit im Christentum verboten waren, blieben für viele jüdische Menschen Bank- und Geldgeschäfte die nahezu einzige Berufsmöglichkeit. Der Rest der Gesellschaft nahm dies jedoch zum Anlass, antisemitische Anschuldigungen zu entwickeln und so entstand der Mythos vom „geldgierigen Juden“. Diese Vorwürfe fanden ihren vorläufigen Tiefpunkt in den Judenpogromen des Mittelalters. Jüdisches Eigentum wurde zerstört und entwendet. Jüdische Menschen wurden auf Scheiterhaufen zum Tode verurteilt.

Als im 19. Jahrhundert Wissenschaften einen immer höheren Stellenwert in der Gesellschaft erlangten, fand eine gezielte Umdeutung statt, Judenhass wurde „wissenschaftlich“ statt biblisch begründet. Jüdische Menschen wurden als von Natur aus minderwertig, aber hinterlistig und machtgierig portraitiert, ihnen wurde unterstellt, im Hintergrund die Politik von Regierungen zu beeinflussen und den Volksgeist zu untergraben. Aus dieser Zeit stammt auch der Begriff des Antisemitismus.4 Der weitere Verlauf der Geschichte ist allbekannt: Der Aufstieg Hitlers, die Nürnberger Rassengesetze, die Verfolgung und Enteignung jüdischer Menschen und schlussendlich die Shoa, der Genozid an der jüdischen Bevölkerung Europas.

All diese Anfeindungen, Vertreibungen und Verfolgungen jüdischer Menschen in der Geschichte führten dazu, dass diese immer wieder in andere Länder fliehen mussten, um sich zu retten oder zu schützen. Dies wird als jüdische Diaspora bezeichnet, also die Zerstreuung des jüdischen Volkes über viele verschiedene Kontinente und Länder. Doch trotz der Flucht in andere Länder waren jüdische Menschen immer noch Anfeindungen ausgesetzt und wurden vielerorts ausgegrenzt. An den verschiedensten Orten und in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen und Schichten sahen sie sich mit Vorurteilen und teils offener Abneigung konfrontiert. Und das bis heute.

Über seine lange Geschichte hat der Antisemitismus ein breites Spektrum von Vorurteilen angesammelt, an denen sich bis heute verschiedene Gruppen bedienen. In der extremen Linken wird bisweilen der Mythos einer jüdischen Finanzelite aufgegriffen, die ein kapitalistisches Ausbeutungssystem geschaffen hat. In der extremen Rechten wiederum wird eine minderwertige jüdische „Rasse“ behauptet, die den deutschen Volksgeist zu untergraben versucht und in Verschwörungsideologien werden immer wieder jüdische Menschen in die absurdesten Behauptungen um Weltverschwörungen eingebaut. Ebenso zeigt sich in der sogenannten Mitte der Gesellschaft eine Verankerung von antisemitischen Einstellungen.5

Eins jedoch haben all diese Behauptungen gemein, und deswegen lassen sich antisemitische Narrative bis heute in unserer Gesellschaft wiederfinden: Sie sind gekennzeichnet vom Unwissen über jüdisches Leben, Kultur und Geschichte sowie fehlenden Dialog. Sie werden ausgemacht durch den Hass auf eine Gruppe, die man eigentlich nicht kennt; einen Hass, dem nur durch einen gemeinsamen Austausch der verschiedenen Gruppen und Kulturen begegnet werden kann.

1 Bering, D. (2002): Gutachten über den antisemitischen Charakter einer namenpolemischen Passage aus der Rede Jörg Haiders vom 28.2.2001. In: Anton Pelinka und Ruth Wodak (Hrsg.): „Dreck am Stecken“. Wien: Politik der Ausgrenzung, S. 173-186, S. 174.

2 Siehe hierzu etwa: Zick, A. und Küppper, B. (Hrsg.) (2021): Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21. Bonn: Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH.

3 Bundesministerium für Inneres, für Bau und Heimat (Hrsg.) (2021): Übersicht „Hasskriminalität“: Entwicklung der Fallzahlen 2001-2020. (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/829792/umfrage/polizeilich-erfasste-antisemitische-delikte-in-deutschland/ abgerufen am 28.08.2021)

4 Erstmals wurde der Begriff 1879 vom Journalisten Willhelm Marr in seiner Schrift „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum“ genutzt, siehe hierzu: Pilarek, P. (2014): Antisemitismus. In: Themenblätter im Unterricht/Nr. 93.Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, Lehrblatt Nr. 1.

5 Zick, A.; Küpper, B. & Berghan, W. (2019): Zerreißproben und Normalitätsverluste der Gesellschaft – eine Hinführung zur Mitte-Studie. In dies. (Hrsg.): Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19 (S. 15-39). Bonn: Dietz, S. 18 f.