Gegenwärtiger RassismusRassismus im täglichen Leben

Alltagsrassismus – Othering – Institutioneller Rassismus

Für diesen Beitrag bin ich nicht die „passendste“ Autorin. Denn ich als weiße1 Person kann nichts über die Lebensrealität von Menschen berichten, die von Rassismus betroffen sind.

Das liegt zum einen daran, dass ich über white privileges verfüge – das heißt Privilegien, die ich mir weder erarbeitet habe, noch ablegen kann, weil ich sie allein aufgrund meiner Hautfarbe habe. Ich werde beispielsweise nicht auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt aufgrund meiner Hautfarbe benachteiligt. Ebenso wenig komme ich aufgrund meiner Hautfarbe vermehrt in Personenkontrollen. Im Alltag werde ich nicht gefragt, woher ich „wirklich“ komme, weil mir keine vermeintliche Fremdheit zugeschrieben wird. In den Medien, in Filmen, in der Werbung gibt es Role Models, die so aussehen wie ich. Kurzum: Mir werden aufgrund meiner Hautfarbe keine negativen Eigenschaften zugeschrieben.

Zum anderen bedeutet es eben auch: Ich trage Verantwortung dafür, wie ich mit diesem Privileg umgehe: Denn auch wenn ich die kolonialen Überbleibsel von Rassismus selbst nicht geschaffen habe, profitiere ich als weiße Person heute davon. Rassismus besteht nicht ausschließlich in individuellen, bewussten Vorurteilen. Rassismus kann verschiedene Erscheinungsformen annehmen: Nicht-intentional, subtil, strukturell, in vermeintlichen Komplimenten und vieles mehr. Rassismus ist ein „System“2 von Äußerungen und Verhaltensweisen: Meinen, gesellschaftlichen oder institutionellen. Die (verinnerlichten) „Regeln“ in diesem System begünstigen jedoch auch heute noch weiße Menschen, sodass Machtungleichheiten auf Kosten von Menschen mit Rassismuserfahrung bestehen bleiben. Durch mein Handeln habe ich also die Wahl, ob ich rassistische Muster und Unterdrückungsverhältnisse bediene und zu ihrer Erneuerung beitrage: Ob ich mich zurücklehne und sage, dass mich das Thema Rassismus nichts anginge, weil es mich nicht betrifft oder ich nicht rassistisch sei. Oder aber, ob ich mich aktiv antirassistisch verhalte, indem ich meine Äußerungen und Handlungen reflektiere und ändere, wenn ich mich rassistisch verhalten habe. Das Eingeständnis, sich selbst schon einmal rassistisch verhalten zu haben, weil man wie der Rest der Gesellschaft mit rassistischen Denkmustern sozialisiert wurde, kann schwer sein: Weil man realisiert, auch wider Willen und ohne böse Absicht Teil einer Dominanzkultur3 zu sein, welche die Mechanismen von Rassismus beständig erhält. Auch wenn ich mich nicht als besonders mächtig wahrnehme, bin ich Teil dieser Dominanzkultur: Weil es nicht um meine weiße Wahrnehmung geht, sondern um Lebensrealitäten von Betroffenen.

Eben dieses Geflecht von Machtstrukturen basiert auf unterstellten Annahmen von Gruppenzugehörigkeiten – beispielsweise, wenn Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe durch die „weiße Brille“ als „fremd“ gelesen werden, obwohl sie es nicht sind und sich selbst nicht so verorten würden. Diesen Prozess bezeichnet man als Othering (abgeleitet vom Englischen „other“ – anders): Gemeint ist damit, dass eine Gruppe sich aufgrund eines oder mehrerer Merkmale als ein „Wir“ begreift, von anderen Menschen abgrenzt, die eigene Gruppe aufwertet – und zugleich die Menschen, von denen man sich abgrenzt, als „anders“ markiert und (gewollt oder nicht gewollt) abwertet.

So basiert zum Beispiel die nicht böswillige Nachfrage „Woher kommst du wirklich?“ oder das vermeintliche Kompliment „Du sprichst aber gut Deutsch“ von einer weißen Person an BIPoC4 auch auf einem Othering-Prozess: Nämlich in der Unterstellung der weißen Person, dass beispielsweise eine Schwarze Person aufgrund des Merkmals Hautfarbe nicht zur „Wir-Gruppe“ gezählt, sondern als anders markiert wird, sodass sie angeblich nicht ursprünglich aus Deutschland kommen könne. Antworten wie „Ich komme aus Dortmund“ werden von weißen Personen oft als nicht ausreichend angesehen, worin sich zeigt, wer die Deutungshoheit über „genügende“ Information für sich beansprucht. Die Frage nach dem „wirklich“ zeigt, dass sie im Kern bedeutet: „Woher kommt deine Hautfarbe?“, bis die Antwort die eigene Erwartungshaltung befriedigt. Auch darin steckt eine Abwertung in Form einer Hierarchisierung – ganz gleich, ob diese intendiert war oder nicht. Unter Hierarchisierung versteht man zum einen gezielte und bewusste Abwertungen – dann ist der Rassismus meist offensichtlich. Aber Hierarchisierungen können auch wie im oben genannten Beispiel sehr subtil sein: Nämlich indem eine weiße Person für sich die Deutungshoheit in Anspruch nimmt, wer zum „Wir“ gehört, als „normal“ oder vermeintlich „wirklich deutsch“ angesehen wird.

Die Annahme, es gäbe Eigenschaften, die man als „wirklich deutsch“ oder auch „nicht-deutsch“ bezeichnen könne, setzt allerdings voraus, dass ein vereinfachtes, homogenes Bild der Gesellschaft zugrunde gelegt wird: Bei der Homogenisierung werden die „Wir-Gruppe“ und die Gruppe „der Anderen“ zu Stereotypen pauschalisiert. Tradierte rassistische Stereotype sind beispielsweise Negativzuschreibungen wie die Infantilisierung von BIPoC, Zuschreibungen minderer Intelligenz, angebliche Unzivilisiertheit, oder aber auch vermeintliche Positivzuschreibungen wie „Rhythmus im Blut haben“ und vieles mehr. Gerade an diesem Beispiel lässt sich der Folgemechanismus von homogenen Stereotypen gut erkennen: Die Zuschreibungen der als „anders“ markierten Gruppe werden naturalisiert. Bei der Naturalisierung wird also implizit unterstellt, BIPoC hätten angeblich von Natur aus bestimmte Eigenschaften – als seien die unterstellten Bilder und Annahmen quasi genetisch in den Körper der von Rassismus Betroffenen eingeschrieben. Letztlich gipfelt Rassismus in der Essentialisierung: Nämlich dann, wenn BIPoC auf ihre Hautfarbe reduziert werden, als ginge damit eine Essenz beziehungsweise ein „Wesenskern“ einher, welcher die Person in ihrem Handeln determinieren würde. Die Folgen dessen sind beispielsweise Phänomene wie Racial Profiling, wo der individuelle Mensch nicht anhand seines Verhaltens, sondern aufgrund seiner Hautfarbe verdächtigt und damit kriminalisiert wird.

Ob es sich also um nicht-intentionalen Rassismus, individuelle Vorurteile, oder aber institutionellem Rassismus handelt: Rassismus ist überall in unserer Gesellschaft in unterschiedlichen Erscheinungsformen präsent wie verschiedene Studien5 belegen. Alle Formen tragen dazu bei, dass Macht-Asymmetrien reproduziert werden, die bis hin zu struktureller Benachteiligung in Schulen und anderen Institutionen, psychischer und physischer Gewalt und Enthaltung von Ressourcen wie auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt führen.6 So wurde beispielsweise vor Kurzem bekannt, dass die städtische Bremer Baugesellschaft (Brebau) Interessierten unter anderem Codes wie „E40“ für BIPoC zuwies, um eine Priorisierung von potenziell Mietenden zu listen.7

Die Erscheinungsformen von Rassismus können variieren – aber das kann der individuelle Umgang mit Rassismus auch. Rassismus an sich ernst zu nehmen, heißt ebenfalls, ihn im Sinne der critical whiteness auch in sich selbst ernst zu nehmen. Zu sagen, ich würde „keine Hautfarben sehen, weil für mich alle gleich sind“, ist problematisch: Denn damit relativere ich die Lebensrealität von Betroffenen und nehme ihre Rassismuserfahrungen nicht ernst. Auch ich habe schon Menschen gefragt, woher sie „wirklich“ kommen, weil mir nicht bewusst war, dass dies rassistisch ist. Aber vielleicht sollte die Frage nicht lauten: „Wo kommst du wirklich her?“, sondern „Wo wollen wir gemeinsam hin?“
 

Empfehlungen zur weiteren Auseinandersetzung

  • Oluo, Ijeoma (2020): Schwarz sein in einer rassistischen Welt. Warum ich darüber immer noch mit Weißen spreche. Münster: Unrast Verlag. ISBN: 978-3-89771-275-1.
  • Tißberger, Martina (2017): Critical Whiteness. Zur Psychologie hegemonialer Selbstreflexion an der Intersektion von Rassismus und Gender. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. ISBN: 978-3-658-17223-7.
  • Weiß, Anja (2013): Rassismus wider Willen. Ein anderer Blick auf eine Struktur sozialer Ungleichheit. 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. ISBN: 978-3-531-93342-9.
  • Sow, Noah (2018): Deutschland Schwarz Weiß. Der alltägliche Rassismus. Norderstedt: Books on Demand. ISBN: 3746006813.

 

Das Wort „weiß“ wird hier kursiviert, und das Wort „Schwarz“ wird im Folgenden groß geschrieben, um darauf aufmerksam zu machen, dass es sich um gesellschaftspolitische Kategorien handelt. Vgl. hierzu: NdM e.V. (2021): NdM-Glossar. [Wörterverzeichnis der NdM mit Formulierungshilfen, Erläuterungen und alternativen Begriffen für die Berichterstattung in der Einwanderungsgesellschaft]. Abrufbar unter: https://glossar.neuemedienmacher.de/ [02.06.2021 – 18:39]. Vgl. ebenso: Ogette, T. (2020). Exit RACISM. Rassismuskritisch denken lernen. Unrast Verlag: Münster, 8. Aufl.

In Anlehnung an: Rommelspacher, Birgit (2009): Was ist eigentlich Rassismus? In: Melter, Claus/ Mecheril, Paul (Hg.) (2009): Rassismuskritik. [Band 1]. Wochenschau Verlag: Frankfurt am Main, S. 25-38; hier: S. 29.

3 Vgl. Rommelspacher, Birgit (1993): Männliche Gewalt und gesellschaftliche Dominanz. In: Otto, Hans-Uwe/ Merten, Roland (Hg.) (1993): Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, S. 200-210.

4 Die Abkürzung „BIPoC“ steht für Black, Indigenous and People of Color. Warum es sinnvoll ist, diese Abkürzung zu verwenden: Es handelt sich hierbei um eine Selbstbezeichnung für Menschen mit Rassismuserfahrung. Die Verwendung ist also ein Zeichen des Respekts, da sie nicht fremd-, sondern selbstbestimmt von Betroffenen gewählt wurde. Warum es sinnvoll ist, diese Abkürzung auch in polizeilichen Kontexten zu verwenden: Die Polizei verwendet unzählige Abkürzungen in ihrem Dienstalltag wie „GefKV“ (Gefährliche Körperverletzung), „Hilo“ (hilflose Person) und sogar für die „ATH“ (Außentragehülle) uvm. Ich habe einige Zeit gebraucht, bis ich mich in dieser Sprache zurechtgefunden habe, aber ich wollte verstehen, mitreden und verstanden werden. Den besten Grund für die Verwendung der Abkürzung BIPoC im polizeilichen Kontext habe ich jedoch durch eine Kommissaranwärterin gelernt (Danke dafür!): Wenn Polizei also so viele Abkürzungen verwendet, wieso nicht auch die Abkürzung BIPoC, die zugleich den Mehrwert hat, Menschen nicht zu verletzen, sondern mit Respekt zu behandeln?

5 Vgl. bspw.: Decker, Oliver/ Brähler, Elmar (Hg.) (2020): Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität. [Leipziger Autoritarismus Studie 2020. In Zusammenarbeit mit: Heinrich-Böll-Stiftung und der Otto Brenner Stiftung]. Psychosozial-Verlag: Gießen. Vgl. ebenso: Zick, Andreas/ Küpper, Beate/ Berghan, Wilhelm (Hg.) (2019): Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/2019. [Hg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Franziska Schröter]. Dietz: Bonn.

6 Vgl. bspw.: Thüsing, Gregor/ Vianden, Sabine (2019): Rechtsfreie Räume? Die Umsetzung der EU-Antirassismusrichtlinie im Wohnungsbereich. Zum verbleibenden Umsetzungsbedarf der Richtlinie 2000/43/EG im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. [Gutachten]. Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Berlin.

7 Vgl. Vespermann, Stella/ Brunnée, Lina [Radio Bremen] (2021): Wohnungen nur für Weiße? [Tagesschau Beitrag vom 20.05.2021]. Abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/investigativ/panorama/brebau-diskriminierung-101.html [02.06.2021 – 16:32].